Oft höre ich in Einführungsseminaren oder von Menschen, die ihre ersten Kontakte mit der GFK haben, bezogen auf den Titel „Gewaltfreie Kommunikation“ folgenden Satz: „Ich schlage ja niemanden, dann brauche ich Gewaltfreie Kommunikation ja gar nicht“.
Natürlich freut es mich, wenn Menschen keine direkte physische Gewalt verwenden und sehe das als wichtigen Beitrag für ein friedvolles Miteinander, der über lange Jahre in unserer Menschheitsgeschichte und auch heute nicht überall selbstverständlich ist. Viel zu oft und gerade auch jetzt in den Zeiten der Corona-Lockdowns lese ich Berichte, die vor einer zunehmenden häuslichen Gewalt warnen.
Gleichzeitig ist Gewalt viel umfassender als reine pysische Gewalt. Und auch diese personale Gewalt oder auch direkte Gewalt, wie Galtung sie im Rahmen seines Gewaltdreiecks benennt, ist weit mehr als Schläge o.ä.. Auch Drohungen, also eine psychische Gewaltanwendung, zählt zu personaler Gewalt.
In der Gewaltfreien Kommunikation sagen wir, dass wir immer dann Gewalt anwenden, wenn wir versuchen, eine andere Person dazu zu bringen, aus Angst, Schuld oder Scham das zu tun, was wir wollen, auch wenn es nicht den aktuellen Bedürfnissen dieser Person entspricht. Dieses Verständnis von Gewalt ist geprägt von einer sehr hohen Achtung für jeden Menschen, für seine Bedürfnisse und seine Entfaltungswünsche. Und es basiert auf einem Menschenbild, das den Menschen als ein einfühlsames Wesen sieht, das von Herzen gerne kooperiert, gibt und nimmt, wenn dies freiwillig möglich ist. Jede Form von versuchter Manipulation, Druck und Androhung von Strafe trennt uns aus der Sicht der GFK von dieser Bereitschaft zur Kooperation und fördert Gewalt. Und damit entsteht ein Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt.
Dies führt uns zur zweiten Komponente des interdependenten Gewaltdreiecks von Galtung, der kulturellen Gewalt. Als kulturelle Gewalt bezeichnet Galtung die ideelle Fundierung und Legitimierung der beiden anderen Formen von Gewalt. Mir kommen da Bilder von Priestern, die Panzer segnen, von Filmhelden, die mit dem Maschinengewehr für Recht und Ordnung sorgen und alle (scheinbar) retten, von früheren Erziehungsbüchern, die propagierten, wie wichtig Schläge für eine gute Erziehung sind…
Dies alles und viel, viel mehr ist Ausdruck der Kultur, in der wir aufgewachsen sind, und die über lange Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte den „Mythos der erlösenden Gewalt“ propagiert hat. Den Begriff „Mythos der erlösenden Gewalt“ hat Walter Wink, ein amerikanischer Theologe, geprägt. Hier schreibe ich mehr zu diesem Begriff und stelle das auf deutsch erschienene Buch „Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit“ von Walter Wink vor. Der Mythos, dass Gewalt löst, dass Gewalt letztlich zu Frieden führt, wenn endlich alle Bösen vernichtet sind, ist in unserer Gesellschaft immer noch weit verbreitet, auch wenn es unzählige Beispiele dafür gibt, dass das Gegenteil der Fall ist, dass Gewalt nämlich der Garant für mehr Gewalt ist.
Das dritte Element des interdependenten Gewaltdreiecks benennt Galtung als strukturelle Gewalt. Zu dieser Form der Gewalt habe ich hier einen eigenen Blogartikel geschrieben.
Alle diese Formen der Gewalt stehen in Wechselwirkung, sind interdependent. Das wird durch das Gewaltdreieck eindrücklich klar. So kann oder wird z.B. personale Gewalt entstehen, wenn bestimmte soziale Gruppen durch strukturelle Gewalt unterdrückt werden. Das wurde beispielsweise in den Ausschreitungen sichtbar, die in den USA als Reaktion auf die Tötung eines Schwarzen durch einen weißen Polizisten aufflammten.
Wenn man sich das alles klar macht, wird verständlich, wie viel umfassender der Begriff der Gewalt ist und dass eine gewaltfreie Kommunikation viel mehr ist als nicht zu schlagen. Und es wird klar, dass es hier nicht nur um meine Interaktionen mit meinen Mitmenschen geht, sondern auch um mein Innerstes, meine Glaubenssätze und Muster, die auch und besonders durch die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, geprägt sind. Daher haben wir in der Gewaltfreien Kommunikation viele Übungen und Tools entwickelt, die im Kontakt mit Anderen aber auch in meiner Persönlichkeitsentwicklung dabei helfen, nach und nach eine gewaltfreie Haltung zu integrieren.