„The powers that be“ von Walter Wink ist eines der Bücher, die Marshall Rosenberg in seinen Seminaren ausdrücklich empfohlen hatte. Es hat ihn sehr beeinflusst, insbesondere seine Sichtweise zum Thema Social Change und die Wichtigkeit, die er diesem Thema nach und nach geben hat. Ich habe das Buch nun in der deutschen Übersetzung gelesen, es ist unter dem Titel „Verwandlung der Mächte. Eine Theologie der Gewaltfreiheit“ im Verlag Friedrich Pustet erschienen.
Walter Wink war ein amerikanischer Theologe, der sich sehr intensiv und mit hohem persönlichem Einsatz mit dem Thema der Gewaltfreiheit auseinandergesetzt hat. So hat er verschiedene Reisen unternommen, z.B. nach Chile während der Diktatur von Pinochet und nach Südafrika in der Zeit der Apartheid, um das Thema der Gewalt und der Gewaltfreiheit in einer Umgebung der Gewalt zu untersuchen.
Walter Wink benennt in seinem Buch einen grundlegenden Mythos, der den existierenden Herrschaftssystemen zugrunde liegt: den Mythos der erlösenden Gewalt. Aus seiner Sicht ist dieser Mythos die reale „Religion“ der Herrschaftssysteme, ein Mythos, der so naheliegend und real erscheint, weil Gewalt so allgegenwärtig ist, und weil der Mythos ständig wiederholt und bestärkt wird. Er benennt als Beispiel einige amerikanische Kinderfilme und -serien, in denen der Mythos Kindern vermittelt wird, indem Gewalt als das letztlich einzige und das erlösende Mittel präsentiert wird.
Walter Wink ist überzeugt davon und benennt dafür verschiedene Beispiele, dass Gewalt nie durch Gewalt bekämpft werden kann, weil sie genau das bestärkt, was sie bekämpft und den Kämpfenden genau zu dem werden lässt, was er oder sie überwinden will. Er ist sicher, dass aktive Gewaltfreiheit das einzige Mittel ist, mit dem Verwandlung erreicht werden kann, von den gewaltverfallenen Herrschaftssystemen hin zu partnerschaftlichen Gesellschaftssystemen. Aktive Gewaltfreiheit ist der dritte und einzig funktionierende Weg, um der Gewalt zu begegnen, neben passiver Duldung und Gegen-Gewalt. Mit dieser Sicht steht er in der Tradition der Gewaltfreiheit von Jesus, Gandhi, Martin Luther King u.a.
Da Walter Wink Theologe ist, liegt sein Hauptfokus des Buches darauf, aufzuzeigen, dass das Christentums in der Tradition von Jesus in der aktiven Gewaltfrieheit verwurzelt ist. Er legt in seinem Buch dar, wie radikal sich Jesus aus seiner Sicht Jesus für aktive Gewaltfreiheit eingesetzt hat, und mit dieser ständig das damals aktuelle Herrschaftssystem herausgefordert und zu seiner Verwandlung aufgerufen hat. Er geht verschiedene Besipiele des Neuen Testaments durch und zeigt, wie sie im Verständnis der aktiven Gewaltfreiheit gelesen werden können und aus seiner Sicht auch müssen. Er benennt klar, kritisiert und bedauert, wie das institutionelle Christentum sich in weiten Teilen schon bald nach Jesus Tod von dieser aktiven Gewaltfreiheit abgewandt, mit den Herrschaftssystemen verbündet und sich ihnen angeglichen hat.
Auch wenn ich die Sprache des Buches gewöhnungsbedürftig finde und versucht habe, manche seiner Begriffe in Worte zu übersetzen, die mehr meinem Wortschatz entsprechen, ist die Botschaft des Buches für mich außerordentlich wertvoll und gerade derzeit leider wieder hoch aktuell, wo der Mythos der erlösenden Gewalt wieder mehr Macht und mehr Anhänger zu bekommen scheint. Die Beispiele der friedlichen Revolutionen aus den letzten Jahrzehnten den 20. Jahrhunderts, die Walter Wink aufzählt, scheinen in Vergessenheit zu geraten bzw. werden vom immer wieder erzählten Mythos der erlösenden Gewalt überlagert.
Vom Mythos der erlösenden Gewalt als eigentliche Religion unseres Herrschaftssystems zu lesen, hat eine große Resonanz in mir gemacht, hat mich im Innersten getroffen und bewegt. Ich kann diesen Mythos in vielem wiederfinden, in politischen Äußerungen, in Filmen im Denken anderer, in meinem Denken. Obwohl ich inzwischen seit 20 Jahren mit der Gewaltfreien Kommunikation unterwegs bin und aktiv arbeite für eine friedvollere Welt, ist dieser Mythos in mir verwurzelt und wird durch Angst um meine Sicherheit und das Überleben genährt. Was mir und was uns als Gesellschaft fehlt, ist die Verbreitung des Mythos der erlösenden aktiven Gewaltfreiheit, dass er mehr und mehr in Filmen, Büchern, Zeitungen, politischen Äußerungen und Taten gelebt und wiederholt wird, so dass er sich in unser Bewusstsein verwurzeln kann. Und es braucht das Üben kreativer gewaltfreier Lösungen für Konflikte, sog. Win-Win-Lösungen, damit sie in unserem Bewusstsein präsent sind, unser Gehirn gewohnt ist, so zu denken, und sie damit im Konfliktfall abrufbar sind. Ein Ansporn für mich, weiter durch das Weitergeben der Gewaltfreien Kommunikation und durch die Ausbildung neuer Trainer*innen dazu beizutragen, dass aktive Gewaltfreiheit als Lösung der neue allgemeine Mythos wird und den Boden bereitet für eine friedvollere Welt!