… diese Schlüsselunterscheidung der Gewaltfreien Kommunikation bringt ein inneres Muster auf den Punkt, das wir alle (von wenigen, erleuchteten Ausnahmen vielleicht abgesehen 🙂 ) in uns haben. Dieser Mechanismus lässt uns häufig vergessen, dass wir eigenverantwortlich entscheiden und handeln können. Gleichzeitig würden die meisten von uns gerne mehr Freiheit spüren, in bewusster Wahl zu agieren statt aus einem automatisierten Muster zu reagieren.
Sei es, dass die Mutter anruft und fragt „Wann kommst du mal wieder?“, sei es, dass der Partner uns mit Nachdruck und einem deutlichen Knall den vollen Mülleimer vor die Nase stellt, sei es, dass wir beim Autofahren auf einer freien Straße an ein Schild mit Geschwindigkeitsbeschränkung 60 kommen … jeder von uns hat Punkte, Situationen, Sätze, die ihn in dieses Muster bringen und uns glauben machen, es gäbe jetzt nur die Möglichkeit zu gehorchen, oder die, sich zu widersetzen – insbesondere im Umgang mit (angenommenen oder tatsächlichen) Authoritäten. Zumeist merken wir es nicht und reagieren dann je nach angewöhntem und erprobtem Muster entweder mit Rebellion oder Unterwerfung. Eine freie, bewusste und erwachsene Wahl ist beides nicht.
In der Gewaltfreien Kommunikation lösen wir dieses Dilemma, indem wir uns auf die Gedanken, Gefühle und Bedürfnisse besinnen, die in der Situation für uns aktuell sind. Damit machen wir uns bewusst, was in uns vorgeht, und können darauf aufbauend eine bewusste Wahl treffen, wie wir handeln wollen. Im Zertifizierungsprozess schauen meine KandidatInnen mit meiner Unterstützung als Assessorin u.a. dahin, wie bewusst sie sich dieses Musters sind, und ob es ihnen gelingt, in den meisten Fällen innerlich das Bewusstsein der Wahl zu halten bzw. bei der Bearbeitung so einer Situation im Nachhinein zu entwickeln.
Im Buch „Vom Schlechten des Guten oder Hekates Lösungen“ von Paul Watzlawik habe ich ein Beispiel gelesen, das dieses innere Dilemma zwischen Unterwerfung und Rebellion und die damit einhergehende Enge in Gedanken und Handlungsoptionen illustriert. Außerdem beschreibt es den Moment der inneren Erlösung, wenn der innere Paradigmenwechsel gelingt und man in dem Bewusstsein der Wahl ankommt. Ich finde das Beispiel so wunderbar einleuchtend und erklärend, dass ich es hier zitieren möchte:
Watzlawik erzählt im Kapitel „Das Dritte, das es (angeblich) nicht gibt“ (S.43ff) vom fiktiven Franzl Wokurka, der …
… als dreizehnjähriger Gymnasiast im Stadtpark vor einem großen Blumenbeet stand und davor eine kleine Tafel mit der Aufschrift entdeckte: Das Betreten der Beete ist bei Strafe verboten. Dies löste bei ihm ein in den letzten Jahren immer wieder aufgetauchtes Problem aus, denn wieder einmal schien die Lage der Dinge ihm nur eine von zwei Möglichkeiten offen zu lassen, und beide waren unanehmbar: Entweder seine Freiheit gegenüber dieser Unterdrückung durch die Obrigkeit zu behaupten und im Blumenbeet herumzutrampeln, gleichzeitig aber auch zu riskieren, erwischt zu werden; oder dies nicht zu tun. Aber schon beim bloßen Gedanken, einem schäbigen Schild gehorchen zu müssen, kam ihm die Wut über die Feigheit einer solchen Unterwerfung. Lange stand er da, unentschlossen, ratlos, bis ihm plötzlich, vielleicht deswegen, weil es ihm noch nie eingefallen war, Blumen anzusehen, etwas völlig anderes in den Sinn kam, nämlich: Die Blumen sind wunderschön.
Lieber Leser, finden Sie die Geschichte banal? Da könnte ich Ihnen nur sagen: Der junge Wokurka sah es nicht so. Die Einsicht schlug über ihm zusammen wie eine brandende Welle, die einen gleich darauf emporhebt und schwerelos trägt. Er wurde sich plötzlich der Möglichkeit des Andersseins seines bisherigen Weltbildes bewusst. Ich will das Beet so, wie es ist; ich will diese Schönheit; ich bin mein eigenes Gesetz, meine eigene Autorität, wiederholte er immer wieder vor sich hin. Und auf einmal hatte das Verbotsschild keinerlei Bedeutung mehr; die manichäische Zwickmühle des Gegensatzpaares „Unterwerfung oder Rebellion“ hatte sich ins Nichts aufgelöst…“